FAZ, 04.12.2001, Dienstag, Nr. 282, S. L8 Literatur (Literaturbeilage)

Rezension: Belletristik

Dramenstoffe? Fragt nur Frau Naubert!

Grandiose Märchen, neu ediert / Von Heinz Rölleke

Die relativ kurze Gattungsgeschichte des Märchens im deutschsprachigen Raum ist -abgesehen von den schwer greifbaren Fakten einer mündlichen Tradierung - durch heftigere Brüche charakterisiert als andere literarische Spezies: Die Literarhistoriker und Volkskundler konstatierten im Gefolge der Arbeiten der Brüder Grimm und besonders mit dem Erscheinen ihrer "Kinder- und Hausmärchen" (1812/14) so etwas wie eine Wasserscheide - und schrieben diese immer fester. So galten die Märchensammlungen vor und neben Grimm als nicht gattungsgerecht und weder künstlerisch noch volkskundlich von Belang.

So konnte es geschehen, daß in der bis heute einflußreichen Studie von Richard Benz, "Märchen-Dichtung der Romantiker. Mit einer Vorgeschichte" (1908), dieser immerhin an die sechzig Jahre umfassenden und durchaus kenntnisreich vorgestellten "Vorgeschichte", mit der angeblichen Volksmärchen-"Verhunzung durch Musäus" im Mittelpunkt, nur ein kurzes Kapitel mit fast lauter Verrissen eingeräumt ist. Weder Benedikte Naubert (1756 bis 1819), über die kein Geringerer als Jacob Grimm 1829 Lob aussprach, noch ihre 1789 bis 1792 in vier Bänden erschienenen "Neuen Volksmärchen der Deutschen" sind mit einem Wort erwähnt. Dabei hätte allein die Fülle der Nachdrucke einzelner Texte bis in die vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts entsprechende Aufmerksamkeit wecken sollen. Da es indes bis auf die Übersetzung eines Märchens ins Englische seit über hundertsechzig Jahren, ziemlich genau also seit dem endgültigen Durchbruch der Grimmschen Märchen auf dem deutschen Buchmarkt, keinerlei Nachdrucke mehr gab, blieben die vielen Vorurteile gegen dieses Werk weithin unüberprüfbar, und den Märchenliebhabern blieb ein bedeutendes Lesevergnügen vorenthalten.

Das ändert sich nun gründlich. Unter dem Dutzend Märchenbüchern aus den beiden letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts ist dieses fünfzehn umfängliche Erzählungen umfassende Werk neben den "Volksmährchen" des Musäus das bedeutendste, und unter den sich jüngst häufenden Nachdrucken vorgrimmscher Märchen ist diese Ausgabe die weitaus beste. Die drei uneingeschränkt kompetenten Herausgeberinnen haben eine Edition ohne Fehl und Tadel vorgelegt: ein philologisch sorgfältigst erstellter Text, eine ausgezeichnete Stoff- und Quellengeschichte zu den einzelnen Geschichten sowie ein Stellenkommentar, der keinen Wunsch offenläßt. Die Verflechtungen mit der Sagen-, Märchen- und Legendentradition sind minutiös nachgezeichnet, erfaßt sind auch die interessanten und bislang kaum beachteten Weiterwirkungen in Werken zum Beispiel Achim von Arnims, E. T. A. Hoffmanns oder Grillparzers, dessen Erstling "Die Ahnfrau" auf Nauberts Geschichte "Die weiße Frau" zurückgeht, ihrerseits eine gelungene und ausnahmsweise humorvoll vorgetragene Kontamination verschiedener Quellen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts.

Was die Quellen und deren Bearbeitung durch Benedikte Naubert betrifft, die früh Philosophie, Geschichte, Latein und Griechisch studiert und sich im Selbststudium Französisch, Italienisch und Englisch angeeignet hatte, so sind der Kenntnisreichtum, die Souveränität der Auswahl und die stilsichere Transformation in poetische Sprache und aufklärerischen Geist des späten achtzehnten Jahrhunderts bewundernswert. Das kann ein Vergleich mit den in denselben Jahren entstandenen, vielbeachteten siebenbändigen "Sagen der Vorzeit" des sogenannten Veit Weber ohne weiteres verdeutlichen: Was hier aus eher mediokren und wenig gehaltvollen Quellen geschöpft und in einem ziemlich verquasten archaisierenden Deutsch geboten wird, das ist in den Geschichten der Naubert mit ihrer geschmackvollen und teilweise sogar in Fußnoten nachgewiesenen Quellenauswahl, dem angenehmen Erzählstil und bewußten Umgang mit den Märchen-, Sagen- und Legendenwundern geradezu konterkariert. Es sieht fast wie ein Programm aus, daß sie in ihren Geschichten Themen aus jedem Säkulum zwischen dem neunten und dem siebzehnten Jahrhundert bietet, den zeitlichen Vorgaben der historischen Novellen C. F. Meyers vergleichbar.

Dabei wird ein breites Spektrum verschiedener Stoffe und Formen bedient: Sagenhaftes etwa in den Geschichten vom Jungfernsprung, vom Oldenburger Horn, vom Rübezahl oder dem Rattenfänger, Legendarisches, meisterhaft erzählt in "Ottilie", "Sankt Julian" oder "Genoveve", sowie eine einigermaßen adäquate, sehr frühe Rezeption der mittelalterlichen Nibelungen- und Artussagen. Die Volkskundler wie die Rezeptionsforscher im allgemeinen, die Märchenforscher im besonderen können ihre Karteikästen neu auffüllen und beträchtlich erweitern, denn die Naubert darf für eine ganze Reihe von Stoffen und Motiven Priorität in der neueren deutschen Literaturgeschichte beanspruchen. Der an älteren Märchengeschichten interessierte Leser findet hier reichlich Stoff in kaum bekannten Versionen - also auch Frischfutter für Rezitatoren.

Daß Benedikte Naubert ihre "Volksmärchen" wie ihre anderen - über fünfzig Titel umfassenden - Bücher anonym veröffentlichte, entspricht einerseits den damaligen Gepflogenheiten weiblicher Autoren und zeigt andererseits, wie auch in der Formulierung des Titels, daß sie sich trotz ihrer eher Herder verpflichteten Darstellungsform ohne Ironie, Sarkasmen oder zeitgenössische Einsprengsel unmittelbar in der Folge von Musäus' "Volksmährchen der Deutschen" sah. Aber wie dieser schon 1789 öffentlich als Autor festgeschrieben worden war, so wurde die Identität der Verfasserin allmählich bekannt. Der 23 Jahre alte Wilhelm Grimm, seit zwei Jahren mit dem Sammeln von Volksmärchen befaßt, besuchte in Naumburg "die Verfasserin der deutschen Volksmärchen", wie er seinem Bruder berichtete: "Ich hörte, daß sie Nauwarg (!) heiße. Ich fand eine kleine, bucklichte, schwer sehende und hörende Frau mit einem blassen, guten und feinen Gesicht, die sich sehr über einen Besuch freute. Sie sprach recht verständig und ungeziert, so daß ich einen angenehmen Eindruck von ihr habe."

Diesen "angenehmen Eindruck" kann man auch noch 190 Jahre später aus den vier sehr schön aufgemachten Bänden gewinnen, sowohl was die Texte als auch was die Anmerkungen der Herausgeberinnen betrifft.

Benedikte Naubert: "Neue Volksmärchen der Deutschen". Herausgegeben von Marianne Henn, Paola Mayer und Anita Runge. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. Vier Bände. Zus. 1224 S., geb., 178,- DM.

Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der FAZ: http://www.faz.de

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